Archiv für den Monat Juni 2013

Koinobion und Eremos (klingt nett)

Das gern beschworene (und heraufbeschworene) Pendel zwischen Koinobitentum und Eremos ist keines. Es ist beides gleichzeitig, immer in folgendem Verhältnis (vielleicht in verschiedenen kleineren Mengenunterschieden und natürlich in inhaltlichen Unterschieden):

Die Regel (in doppeltem Sinn) und Menge (logischerweise, da eine Gruppenveranstaltung) in modernen Gesellschaften ist: Das Koinobitische. Eine Ausnahme und (logisch) einzeln vorkommend: Das Idiorrhytmische. U.a. in der besonders expliziten Form des Eremitentums. Wenn ein Pendeln als Bild verwendet werden kann, dann als Pendeln der Individuen, nicht des Gesellschaftsaufbaus: U.a. ein geistiges und materielles Bewegen zwischen Masse, Gruppe und Einzelnem.

Es hat im Laufe der Jahrhunderte immer wieder Verfestigungen der/in Gemeinschaftsrhythmen gegeben (mit bewusst konstruierten/(aus)genutzten oder impliziten/gewachsenen Hierarchien). Und Ausbrüche aus dem Koinobitentum, aus grundsätzlicher – heteronomer oder subjektiver gruppischer oder individualer – Unpassendheit oder aus selbstgeschaffener Kritik an einer Fehlentwicklung im koinobitischen Bereich des Lebens, z.B. zu einer zu strukturkonservierenden (Nicht-)Bewegung, oder einem Hyper-Koinobitizismus. Das ist aber vermutlich eher ein Fall für bzw. die Perspektive der Systemtheorie oder Makrostrukturanalyse und nicht mehr Individual-Lebensphilosophie.

Dekonstruktion in und der Vernunft

Annahme: Dekonstruktion ist ein Instrument – und sollte auf Basis der Vernunft verwendet und nicht einseitig bzw. undifferenziert für eine Ideologie oder für Partikularismus eingespannt werden. Die Dekonstruktion wird ja gehaltvoll (bzw. besteht darin), wenn sie ideologische Verallgemeinerungen und generalisierte, nicht auf Freiwilligkeit beruhende Unterwerfungsansprüche durch konkrete Inhalte* dekonstruiert. Sie relativiert auf kritische Weise, und dabei nicht nur auf einer, sondern auf (theoretisch) allen Ebenen bzw. auf alle Ebenen des Denkens und der Konstruktionen gerichtet. Sie dekonstruiert und hinterfragt inhaltliche Behauptungen, sowohl diejenigen, die universellen Gültigkeitsanspruch erheben als auch diejenigen, die eine allgemeine oder rechtlich wirksam werden sollende Forderung auf relativistischen Grundannahmen postulieren, also ihrerseits Absolutheitsansprüche (nur partiell) versuchen. [Vgl. zum Beispiel ‚universalistische‘ und ‚relativistische‘ Theorie(n) in der Politikwissenschaft zu den internationalen Beziehungen und der juristischen Völkerrechtslehre.->] Die Dekonstruktion hinterfragt (oder umgangssprachlich: hinterfrägt) eine universelle Menschenrechtskonstruktion ebenso wie eine Abschottung von universellen Rechten im Namen einer „eigenen“, autarken, angeblich formal-theoretisch nonkommensurablen oder nicht kompatiblen Kultur, oder anderem. Auf der jeweiligen Ebene bleibt die Dekonstruktion aber nicht stehen. In ihrer Logik ist die theoretische** Permanenz angelegt. Sie bleibt auf keine Ebene beschränkt, auf der sie gerade betrieben wird. Bishin zum z.B. Atom, seiner Deutung und dem angeblichen Verhältnis von Atomen untereinander wird theoretisch immer (weiter) dekonstruiert. Dies kann man aus pragmatischen Gründen abbrechen. Man kann unangenehme Ergebnisse ignorieren (versuchen). Und, um Vernunft und Dekonstruktion am gleichen „Ort“, oder zumindest parallel, anwesend sein zu lassen, muss man, mit (s)einer Einschätzung argumentativ versuchen, vor der Dekonstruktion sachlich zu bestehen. Eine (Post-)Dekonstruktion muss sachliche Gründe differenziert bewerten und dafür oder danach auch deskriptive und normative Festlegungen/Grundlagen als temporäre Orientierungen [„aktueller Stand des Vorurteils“ etc.] zulassen (bzw. für die kritisch-rationale Prüfung dauerhaft offen halten). Diese Arbeits-Festlegungen soll man dann (und man kann sie dadurch auch erst) wieder kritisch prüfen (u.a. dekonstruierend).

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* Nicht gemeint ist die Generalisierung durch die objektive Form des Rechts, die in der Logik des Vernunftrechts liegt. Aber auch diese Form, als sozial wirksamer Rahmen, sollte in seinem Objektivitäts-Anspruch ebenfalls regelmäßig kritisch geprüft werden.
** Praktisch setzt der Mensch und seine Orientierungsnotwendigkeit der Dekonstruktion ein Stopp, bei Punkten der zwischenzeitlichen Pause oder mit als stabile Grenze versuchten (Re-)Konstruktionen.

Von Innen nach Außen und dann Austausch

Nicht der Bezug auf sich selbst an sich, die Betonung des „Ich“* ist es, sondern die Gesellschaftssucht, die pausenlose und rückzugslose, bodenlose Abhängigkeit von gesellschaftlicher Bewertung und Be-Urteil-ung (als immer empfundene und neurotisch gesuchte, vermeintliche Lebensgrundlage) ist es, die Menschen krank, traurig und sich selbst gegenüber distanziert machen kann. Diesen Zustand gälte es, wenn man Ratgeber eines davon betroffenen Individuums wäre, vom Kopf auf die Füße zu stellen. Von der Gesellschafts-Oberflächen-Zentriertheit und dauerhaften Unzulänglichkeits-Empfindung zu einem seines selbst bewussten Individuum, das die ihn umgebende Gesellschaft und die Möglichkeiten (realtypischer wie auch alternativ und ideell möglicher Art) an-sehen und an-verstehen versuchen kann und sie sich zum Firmament macht, aus dem es wählen und das es (abstrakt die Großgesellschaft und konkret die Menschen, mit denen es sich umgibt) mitgestalten kann. Von der kleinen Gruppe und Horde der Vorzeit [der besonders spekulativen Historie], wurde diese Abhängigkeit übertragen und auf die abstrakt-anonyme und arbeitsteilig und generalisiert (Sozialstaat, Rechtsstaat) organisierte Gesellschaft übertragen – und dabei in vielen Fällen zur Neurose übersteigert bzw. auf andere Dinge als lebensnotwendige Nahrung und Sicherheit im Kampf gegen anderen Horden projiziert. Die (heutige) Gesellschaft ist selbst, wie alles Zusammenleben, ambivalent. Statt deren Vorteile nutzen zu können – zusammengefasst: Anonymität, geringere soziale Kontrolle, unnötig gewordene (trotzdem in vielen individual-fernen Gruppen weiter vorhandene) hordenspezifische Disziplinierung, Arbeits-Spezialisierung und theoretische Möglichkeit der Vielfalt – orientieren sich Menschen, die das gerade potenziell vielfältige Ich zugunsten eines Bildes von der Gesellschaft und ihrer (vermeintlichen und tatsächlich sanktionierten) imperativen Forderungen aufgegeben haben, an gesellschaftlich standardisierter Monokultur und den soziomental (teilweise selbst-)beschränkten Möglichkeiten von Standard-Konsum und geistig (intersubjektiv-intellektuell und fantasie-subjektiv) unnötig reduziertem Austausch. Die früheren konkreten Hordenformen waren (theoretisch) aus Zwangslagen entstandene Zweckgemeinschaften. In heutigen Gesellschaften lebende Menschen, die sich vom Ich entfernt haben, um anerkannter Teil eines imaginierten Abstrakten zu sein, das an einer konkreten Horde von damals orientiert (wohl meist unbewusst) ist, reduzieren in unnötiger Form und Intensität ihre individuellen Möglichkeiten und schaffen neue (jetzt meist gefühlte) Abhängigkeiten, welche selbsterkorenen Gruppenführern und Herrschaftsmenschen gerne ausnutzen. Solange dies ein relativ freiwilliges Win-Win-Spiel wäre – z.B. Orientierung und gefühlte Gemeinschaft gegen Unterordnung – wäre es ein Tausch, den jedes Individuum theoretisch frei sein sollte zu wählen. Aber wenn es zum dauerhaften Gefühl der Unzulänglichkeit und Lebens-Deformierung aus gesellschafts-urteils-abhängigen Gründen kommt, handelt es sich um die Ausbildung eines Leidens, das aus Selbstdistanzierung und unerfüllter Suche/Sucht kommt: Aus Anerkennungs-Suche, die – wenn sie voll auf die abstrakte Gesellschaft oder eine gruppische Horde projiziert wird – niemals über das kurzfristige Erleichterungsgefühl hinaus zufriedenstellen wird und das Individuum unnötigerweise (gerade in einer Gesellschaft mit Individualitätspotenzial, das oft nicht mal ernsthaft angegangen/ver- und gesucht wird) von sich selbst fernhält.

 

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* Wenn dann ein relativ weitgehend heteronom getriebenes, entäußertes, von Außen nach Innen gerichtetes (Schein-)“Ich“.

Neoklassik und Immanenz (sind schöne Worte)

Eine (mir derzeit nicht nahe liegende) Variante der neorealistischen Einschätzung der „Geschlechterdebatte“ oder der Theorie des Geschlechterkampfs (im politischen, nicht beziehungspsychologischen Sinn):

Man kann’s halten wie man will: Die Gesellschaft, als Struktur, deren oberstes Funktionsphänomen die ‚Macht’* ist, scheißt einem immer wieder gegen die Laufrichtung. Mensch (zugleich Humanismus und humanismusinstrumentalisierungskritisch) muss nur aufpassen, dass er das umgeht oder abwehrt, oder offensiv sich ein Umfeld schafft, das scheißgeschützt ist. Dafür er sich unter einen Hegemon stellt (Staat?, Gruppe) oder selbst führend tätig wird [aber anstrengend und direkte Kraft erfordernd].

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* Im Sinn der realistischen Schule, nicht z.B. in der prinzipiell unterschiedlichen Definition von Hannah Arendt.

Markt- und Staatsversagen aus einer möglichen individuellen Sicht

Marktversagen: Der Markt versagt mir eine Antwort, die ich – im Nachhinhein betrachtet – oft gar nicht gebraucht habe.

Staatsversagen: Der Staat versagt mir die Anwendung seiner Potenz. Eine konstruierte und fast immer (außer bei starken Krisen) gesellschaftlich und meist sozial [in und zwischen kleineren Gruppen] geglaubte (und damit wirksam werdende) Potenz. Sie speist sich aus dem Geld der Menschen [also ihrer Bereitwilligkeit, regelmäßig zu arbeiten], der installierten Vielfalt und Größe der staatlichen formalen Institutionen und der daraus abgeleiteten symbolischen und sozialkonstruktiven Massivität und praktischen Nicht-Ignorierbarkeit des Staates. Nur wenige Phänomene können im Leben eines Menschen nicht (großteils, praktisch) ignoriert werden. Dazu gehören wohl der Staat und (zumindest letztlich) der Tod.

Sollte der Staat mir also versagen, seine Potenz mir praktisch in Erfahrung zu bringen, ist das ambivalent. Es kann mich vor Probleme der Finanzierung meines Lebens stellen. Es kann mir auch einen nicht-so-interessanten Aufwand ersparen [Formulare, Behördengänge und Weitergereichtwerden von einem Amt zum Andern etc.]. Es lässt mich zunächst „allein“ (in dieser großen anonymen Gesellschaft). Ich kann aber vielleicht, wenn es meine Kraft erlaubt, auch nach Wegen suchen, mich selbst wieder durchzuwurschteln.

Anhand der Länge der beiden spontanen und kurzen Beschreibungen eine These:
Marktversagen ist nicht so gravierend bzw. bedarf in der Regel (nicht in der Ausnahme, rein logisch-beispiellos gesagt) weniger Nachdenken und Abwägen der Aktion und Reaktion als Staatsversagen. Wenn der Markt (mir etwas) „versagt“ gibt es vermutlich etwas auf dem Markt (mit seiner oft oberflächlichen, aber aus der menschlichen Langeweile entstehenden Vielfalt), was mir als Alternative gereichen kann. Oder ich bastle mir selbst etwas. [Achtung: Sein Selbst-Hergestelltes oder seine Dienstleistungs-Idee nicht verkaufen, da selbständig sein sehr stressig ist. Hier versagt u.a. der Staat mir seine für Sicherheit guten und für Spontanität schlechten Seiten nicht].

Staatsversagen ist auf jeden Fall anstrengend. Entweder weil ich nicht die Kraft habe ohne Hilfe auszukommen. Dann brauche ich den Staat als Institution der anonym-entpersonalisierten Not- und Finanz-Hilfe. Oder ich muss mich nach eigenen Möglichkeiten und Wegen umsehen, mit Finanzierung von Krankheit und auch Gesundheit, dem Leben im Gesamten, umzugehen. Beides eine dauerhafte Herausforderung. Beides ambivalent.